TOM KRISTEN

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Ingrid Zimmermann

 

Vom Hortus conclusus und anderen Geheimnissen

 

Schauen und Sehen, Synonyme und dennoch zwei Seiten einer Medaille, einer Medaille, in deren Innerem sich dann wieder die existentiellen Bestandteile mischen. Der Maler, Zeichner und Lithograph Tom Kristen, um den es hier geht, ist ein Niederbayer, und so mag es erlaubt sein, ein Bonmot zu zitieren, das Kaiser Franz Beckenbauer so gesagt haben soll: „Schaung ma amoi, dann segn mas scho“. Er schaut in das noch nicht Wirkliche, in die Zukunft, und weiß, es kommt die Zeit, da seine Augen das Wirkliche sehen, das, was man anfassen oder auf Fotos bannen kann. Noch einmal andersherum: Die Nonne Hildegard von Bingen wird als Seherin bezeichnet. Es war aber so, dass sie Bilder „schaute“. Als sie diese Bilder gemalt und damit „wirklich“ gemacht hatte, musste sie sich von Zeitgenossen heftig für deren zum Teil als häretisch angesehenen Inhalt tadeln lassen. Manches Detail in diesen Bildern mag vielleicht erst heute verstanden werden, da sich die rein metaphorischen Regeln der christlichen Malerei aufgelöst haben. Auch die Seherin des 16. Jahrhunderts hat also in die Zukunft geschaut. Mit Tom Kristen haben wir es mit einem Maler zu tun, der sehen und schauen kann und es ständig tut. Der Betrachter seiner Bilder wird nicht umhin können, bei sich selbst ebenfalls beides zuzulassen.

 

In seinen Lesungen zur Philosophie der Kunst hatte Friedrich Wilhelm Schelling in seiner Münchner Zeit vor rund 200 Jahre postuliert, „für den, der es in der Kunst nicht zur freien und zugleich leidenden und tätigen, fortgerissenen und überlegten Beschauung bringt, sind alle Wirkungen der Kunst bloße Naturwirkungen...“ An anderer Stelle spricht Schelling der Phantasie zu, sie sei es, „die das Absolute mit der Begrenzung zusammenbringt und in das Besondere die ganze Göttlichkeit des Allgemeinen bildet“. Das hört sich hochgestochen und gelehrsam an, wie einer der großen Denker der Blütezeit der deutschen Philosophie zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch sein durfte, aber genau das ist in den Arbeiten des Malers Tom Kristen zu finden, das Gegensätzliche, das dennoch eins ist. Nie weiß man ganz genau, wo man bei ihm dran ist: Ist der Schatten mehr als das Objekt? Können Wolken schwer sein wie große, nasse Bettkissen? Dürfen Kommoden mit vielen Schubladen, diese verlässlichen Begleiter meist mehrerer Generationen, irgendwo in der Luft stehen, nicht oben, nicht unten? So geht es weiter:  Tische, die stabil sein sollten, um ihren Aufgaben gerecht zu werden, auch Betten, die das Gewicht eines Menschen aushalten müssten, haben stabdünne Beinchen, selbst wenn auf ihnen eine ganze Baumreihe, vielleicht sogar ein Berg, Platz gefunden hat. Tische mögen zudem Räder haben oder auch auf einer Art gedrechselten Türmen ruhen, die sich selbständig machen können und herumfliegen. Überhaupt scheint alles zu schweben, selbst Häuser, Häuser in der Urform, Fassade mit einem schmalen oder gar keinem Fenster, darüber ein Giebeldach, Dreieck auf Viereck. Verwandt sind diese Häuser den allüberall vertretenen Bergen – denn, immerhin, auch Häuser bergen und verbergen. Die Berge bei Kristen ihrerseits sind heilige Berge, dreieckige Körper, Mugel, Buckel, oben abgerundet. Nur: Sind sie denn aus Masse, aus Steinen und Felsen, mit Bäumen darauf? Das sind sie nicht. Fest sehen sie aus, aber sind dennoch Fata morganen oder manchmal sogar das Abbild eines Sofakissens mit dem berühmten Knick in der Mitte. Versuchte man auf diese Berge zu steigen, würde der Fuß einbrechen. Auf eine gleichermaßen absurde wie schlüssige Weise ist in diesen Bildern Quantenphysik pur zu sehen: Alles ist mit allem verbunden und Festes gibt es nicht. Von Menschen mit Vogelschnäbeln, die lustig daherplappern, und geflügelten Engeln ganz zu schwiegen. Hausgeister nennt er sie.

 

Er war noch ein sehr junger Mensch, als Tom Kristen nicht durch Zufall, sondern weil es so sein sollte, ans Zeichnen geriet. Es war auf einem Familienurlaub und der Bub musste bei einer Wanderung zurück bleiben, weil er sich den Magen verdorben hatte. Er fand Papier und Stift, setzte sich nach draußen und zeichnete was er vor Augen hatte. Es war eine Initialzündung, eine kleine eigene Welterschaffung. Die Schule wurde abgeschlossen, eine technische Lehre schloss sich an. Aber etwas trieb: Das Abitur wurde nachgeholt und das Architekturstudium angegangen. Hier durfte gezeichnet werden, hier wurden Räume geboren, hier durfte ein Gefühl für Formen wachsen, gerne für archaische Formen, für Urformen der Natur. Es kam der Tag als Tom Kristen die Kühle der Zeichnung nicht mehr reichte. Er wollte sich die Farbe erobern. Das war zunächst harte Arbeit, denn das, was er ausdrücken wollte, das Körperlose und Durchscheinende, die Energie, die Aura, vielleicht ein wenig auch das Heilige, gleichzeitig aber das Handfeste des Hier und jetzt, das wollten ihm die Farben, die ihm zur Verfügung standen, nicht geben. Erst als er auf das Farbsortiment von Le Corbusier, dem berühmten Architekten, stieß, kam das Gelingen näher. Dem Zeichnen und dem, was verwandt ist, wurde er darüber nicht untreu. Im Münchner Künstlerhaus leitet er seit einigen Jahren eine Lithografie-Werkstatt.

 

Mit dem Wachsen der Hinneigung zur Malerei in Farbe bekamen alte Fragen ein neues Gesicht: Wo beginnt die Realität, wie verhalten sich Raum und Fläche zueinander, was ist Abstraktion? Und auch dies: Wann ist etwas ein Symbol, also nicht mehr es selbst, sondern ein Abbild, vielleicht gar ein Archetypus, gespeichert im Unbewussten? Da der Maler aber einer ist, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht, der eine enge Beziehung zur Natur hat, ohne Bäume und Garten nicht leben möchte, bleiben seine Bilder Bühnen der Wirklichkeit, auch wenn das Metaphorische immer dahinter steht. Immer ist irgendwo ein Blumentopf oder eine Vase, aus denen heraus etwas blüht. Wobei offen bleibt, ob ein Blumentopf nicht auch letztlich ein Gefängnis ist. Und der „Hortus clusus“, der in so vielen Arbeiten eine Rolle spielt, manchmal nur angedeutet, manchmal liebevoll ausgeführt, ein runder Zaun aus Strichen, dahinter, strotzend, aber unromantisch, Blumen, Bäume, auch mal einer dieser Berge. 1575 hatte der Heilige Ambrosius die Idee des Hortus clusus entwickelt, des verschlossenen Gärtchens, das für ihn ein Sinnbild des Geheimnisses und des Heilseins, der Jungfräulichkeit, bedeutete. Ambrosius bezog sich auf das Hohe Lied von König David. Es ist überliefert, dass er sagte, „die Dinge, die wir sehen, sind zeitlich, die wir nicht sehen, sind ewig“. Und damit geht es wieder um Sehen und Schauen.

 

An viele seiner Themen gerät Tom Kristen schlicht im Leben. Er erzählt, was ihn berührt oder gar betroffen hat. Niemals jedoch in Form einer Art Illustration, so dass der Betrachter nur einem schon getretenen Pfad zu folgen bräuchte. So zum Beispiel die Sache mit dem Berggeist. Kristen war bei einer Fußwanderung von München nach Italien mitgegangen. Die Gruppe kam, schon auf Eiseshöhen, in undurchdringlichen Nebel und kehrte um. Man traf einen kleinen, etwas seltsamen Mann, der sagte, er werde den Berg schimpfen – was er tat. Der Nebel ging auf, man konnte weiter wandern. Auf Tom Kristens Bild sitzt der Berggeist in der Badewanne – vielleicht stieg von dort der neblige Dampf auf. Der Betrachter muss diese Auslösergeschichten nicht kennen. Er kann seine eigenen Geschichten im Kopf und im Herzen entstehen lassen. Was ist für ihn der Mensch, der geradeaus aus dem Bild schaut, vier Augen hat und ein Gehörn auf dem Kopf, das eine Antenne sein könnte, um dem Rauschen anderer Wirklichkeiten zu lauschen? Warum ist ein Mensch eine Gestalt aus verschlungenen Linien, in denen etwas schwingt wie in Atomkernen? Kann er existieren ohne eine Haut zu haben, die ihn abschließt, oder ist er doch eher ein vibrierendes Energiebündel, zeitlich begrenzt und doch ewig? Wie verträgt sich das, die manchmal monochromen, dunklen Flächen und davor diese Geschöpfe, licht, transparent und doch klar in ihren Umrissen? „Ich bin ein positiver Mensch“, sagt Tom Kristen von sich. Das schlägt sich nieder in seinen Bildern. Sie tun gut. Aber sie sind fern einer romantischen, sentimentalen Scheinwelt. Das Helle überwiegt, aber das Dunkle hat seinen Platz.