Mechtild König Kugler
Entdeckungsreisen mit anderen Augen
Vielleicht ist es die Frische einer Zeichnung, das Spontane des ersten Gedankens, das Fließen, das Vage , das Gefühl, das alles möglich ist, das mich sofort eintauchen ließ in Tom Kristens Bildwelt.
Gerade heimgekehrt von einer Reise und selbst noch angefüllt mit Bildern, entführte mich sein buntes Panoptikum noch einmal in den Sog der Reise - einer Reise im Kopf.
Was hört der kleine Glatzkopf in der Stille dieses hellen Raumes? Er hat ein großes Ohr ausgefahren, den Kopf leicht geneigt in heiterer Hingabe. Er lauscht hinein in eine magische Landschaft. Ein gelber Berg wie ein Zelt erhebt sich vor weitem Horizont- merkwürdig umzäunt. Assoziationen zum Garten drängen sich auf. Zwei Blümchen sprießen aus dem Topf auf der Bank , wie große Setzlinge ragen Bäume in den Himmel.(Großes Gehör, 2009)
In einem anderen Bild wachsen zwei Äste aus dem Kopf des Glatzköpfigen. Gleich vier Augen und das antennenartige Geweih dienen ihm zur Wahrnehmung. Vielleicht hat er sich die geschärften Sinne vom Reittier unter sich ausgeborgt, vielleicht aber ist er auch schon mit dem Tier zu einem Wesen zusammengewachsen.(Reittier, 2009)
Viele Motive in Tom Kristens Bilder begegnen uns immer wieder. So mutiert der Berg zur Pyramide ('Pharaonenkind',2008), wird zum Schrein des Polarforschers('der Schrein des Polarforschers', 2009) oder vermehrt sich als gelber Zuckerhut ('Berggeist',2009). Ein 'Bergarbeiter' zieht den Berg wie ein großes Brot aus dem Ofen und reiht die fertigen Laibe,einen nach dem anderen, auf den Tisch. Der Berg steht auch inmitten des Zimmers, zwei Blumen sprießen wie Topfpflanzen aus seiner Spitze, er ist zum Teil des Interieurs geworden wie die Kommode und der Teppich, er gehört dazu wie das Kind , das auf dem Krokodil reitet.'Endlich wieder da' heißt diese Bild. Ist es die Rückkehr ins Gewohnte, das Hineinnehmen der Berg- und Naturerfahrung in den Alltag, die Verinnerlichung einer Reise? Oder ist das vermisste Spielzeugkrokodil wieder aufgetaucht? Es geistert als urweltliches, mythisches Tier durch etliche Bilder.('Gefunden', 'Pharaonenkind').
Tom Kristen erzählt uns immer wieder neue Geschichten mit einem überschaubaren, vertrauten Repertoire an Motiven: den Kürzeln von Natur wie der Berg, die Wolken, die Blumen, Kirschen, Horizont, Tiere - den ganz einfachen Dingen des Alltags wie Tisch, Stuhl, Bett, Schrank, Zuber, Topf, Tasse, Glas, Haus - den menschlichen Wesen, die auf elementaren Ausdruck reduziert sind. Dazwischen wirken Mischwesen mit Vogelkopf, Engelsgestalten, die Mickey Mouse. Es sind Notate von Stimmungen, von inneren und äußeren Bildern. Tom Kristen schüttet seine Bildwelten wie aus einer großen Spielkiste mit der Kraft des kindlichen Spiels, mit der Freiheit, die dem wilden Denken eigen ist.
Der jüngst verstorbene Anthropologe Claude Levi-Strauss bezeichnete mit dem Begriff des wilden Denkens eine in 'primitiven' Kulturen vorherrschende Denkform, die mit einer archaischen, magischen Weltsicht verbunden ist. Alle Wesen, Dinge, Phänomene sind dabei durch einen allumfassenden Zusammenhang miteinander verbunden, der rational nicht erklärbar und begreifbar ist. Dieses Denken findet in Form von komlexen Bildern als Bestandteil der sinnlichen Wahrnehmung und der Einbildungskraft statt.
Im kollektiven Unbewußten sind Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster angesiedelt, die auf den Urerfahrungen der Menschheit wie Geburt, Kindheit, Pubertät, ein Kind bekommen, alt werden, Tod, etc. beruhen(C.G.Jung)
Diese archetypischen Symbole äußern sich in Träumen, Visionen, Märchen, Mythen und eben auch in künstlerischen Erzeugnissen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehrdeutigen Gebilde sind ,die Assoziationen zu geistigen Ideen auslösen. Sie bilden zwar einen gewissen Konsens zwischen dem Betrachter und dem Künstler, jeder liest jedoch anders in den Bildern.
Sie stellen einen expressiven Bilderspeicher, aus dem sich jeder nähren kann.
Für Tom Kristen sind seine Bilder nicht erklärbar. Sie ergeben sich aus der Neugier auf neue Welten, Landschaften, Orte, Paradiese, Gärten, Empfindungen, Begegnungen.
Grundlage dieser Bildfreiheiten bildet ein langgeübter Umgang mit Bildaufteilung. Erst in jüngster Zeit wagte der Künstler den Sprung in die Malerei. Sein Medium waren lange die Zeichnung und die Druckgraphik, wie Siebdruck und Lithographie. Die spontanen Qualitäten der Zeichnung, die Zufälle, die sich in den Trocknungsphasen beim Druck ergeben, auch die Einteilungskriterien von Flächen im Mehrfarbendruck sind in den Gemälden spürbar. Vieles wirkt wie ausgestanzt oder collagiert.
Vor diesem zielsicheren Einteilungsgespür können sich die Bildwelten entfalten- die Komposition bildet das Gerüst.
Tom Kristen geht nie von einer vorgefertigten Bildidee aus, sondern löst einen offenen, vom Material ausgehenden Bildprozess aus. Er arbeitet an mehreren Arbeiten gleichzeitig, reagiert auf entstehende Strukturen, korrigiert und übermalt. Voraussetzung für die aquarellhafte, aber auch druckgraphisch wirkende Form des Malen ist für ihn die Entdeckung einer matten , hochpigmentierten Acrylfarbe, die sich stark verwässern lässt und in der Trocknungsphase überraschende Strukturen erreicht, die aber auch opak wirken kann und vor allem schnell trocknet. Das kommt seiner Malgeschwindigkeit entgegen.
Um stark verdünnte Lasureffekte zu ermöglichen, bearbeitet Tom Kristen Karton oder Leinwand auf dem Tisch, nicht auf der Staffelei. Überwiegend greift er zu grundiertem Karton, für ihn ein optimaler, planer Bildträger. Die Größe der angebotenen Kartons bestimmt seine Format. Das Experimentieren mit den variablen Größen von Leinwand hat bei ihm erst begonnen. Auffällig ist das eher kleine, intime Format, von Ausnahmen abgesehen.
Tom Kristen ist begeisterter Wanderer, am liebsten von der Haustür weg in die Ferne. Das Fremdwerden von Vertrautem und das Nachhausebringen von Erlebtem löst einen Arbeitsschub bei ihm aus. Manche seiner Bilder entführen in die Selbstvergessenheit des Familienurlaubs am Meer, andere spiegeln das Gefühl von Heimat und Verwurzelung.
'Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.'(Marcel Proust)